PRESSE:
In ihrer zehnten und leider letzten Produktion ist die "zeitoper" jetzt in den Lesesaal der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart gezogen. Auch hier entwickelte sich in der Premiere ein feines, hintersinniges Beziehungsgeflecht zwischen dem Ort und der in Auftrag gegebenen Musik: Ausgangspunkt für "Die Geisterinsel" des US-amerikanischen Komponisten Ming Tsao war nämlich das gleichnamige Singspiel von Johann Rudolf Zumsteeg, das 1798 in Stuttgart uraufgeführt wurde und dessen Originaldrucke in der Landesbibliothek lagern. Der "Geisterinsel" wiederum liegt Shakespeares Drama "Der Sturm" zugrunde und damit die Geschichte Prosperos, der nach einer Intrige auf einer einsamen Insel ausgesetzt wurde und dessen Macht sich nicht nur auf Zauberkraft, sondern vor allem auch auf einem Bücheruniversum aufbaut. Da schließt sich der Kreis.
Eine Vertonung von Shakespeares "Sturm" im engeren Sinne ist Tsaos "Geisterinsel" aber nicht. Shakespeares letztes Drama ist hier auf ein paar Seiten zusammengeschnurrt und mit allerlei Fragmenten aus anderen "Sturm"-Adaptionen und -Übersetzungen vermischt. Die Personage ist auf Prospero (Tito You), seine Tochter Miranda (Tajana Raj), ihren Geliebten Fernando (Daniel Kluge) und auf Prosperos Gegenspieler Caliban sowie einen Geisterchor reduziert.
Der Inhalt der dramatischen Vorlage ist nur vage fassbar: Es geht um Prosperos Macht durch Wissen, den Zerfall der Sprache und den damit verbundenen Machtverlust Prosperos, herbeigeführt durch den aufständischen Sklaven Caliban, ein seltsames Wesen, halb Mensch, halb Fisch. Bei Tsao sind es zwei Sänger, die den Rebellen spielen: Christoph Sökler und Mario Pitz.
Matthias Rebstock, der den Abend inszeniert hat, lässt Prosperos streng geordnete Welt, die im Bibliothekslesesaal zwischen den systematisch nach Signaturen gereihten Büchern und den symmetrisch gestellten Lesetischen ihren idealen Ort gefunden hat, durch Bücherkanonaden, zerfetzte Folianten und herabfallenden Papierregen untergehen. Das Ende bleibt offen. Prospero entzieht sich Calibans Revolution, in dem er Miranda und Fernando, beide gefangen im Meer der Lesetische, in den unvermeidlichen Bibliotheksschlaf folgt.
So wie die schönen Verse, die immer mehr in ihre kleinsten Bestandteile zerfallen, diente Ming Tsao auch Zumsteegs Musik lediglich als Keimzelle für eine ganz eigene Klangwelt, die sich im Lesesaal langsam aufbaute und eine faszinierende Synthese mit dem Raum einging. Tsaos Protagonisten pflegen einen ausdrucksstarken Sprechgesang, der neunköpfige Chor und das Kammerorchester mit Musikern des Staatsorchesters dagegen, in Grüppchen zwischen den Bücherregalen aufgeteilt, spannen unter der Leitung von Stefan Schreiber ein hochdifferenziertes Klangnetz aus geisterhaftem Säuseln, quirligen Wellenbewegungen, Steineklopfen und Sandrieseln, sphärischen Luftgeräuschen, schreienden Blechbläserfanfaren und Streicherflageoletts. Der Höhepunkt: eine donnernde Sturmmusik, erzeugt durch mehrere Pauken, deren Felle Kleiderbügel aus der Reinigung, die mit Geigenbögen gestrichen werden, in Schwingung versetzen.
Spektakulär auch, wie die Musik Ming Tsaos die akustischen Irritationen des Gebäudes, die durch die zerklüftete Oberflächenstruktur der Saaldecke entstehen, für sich zu nutzen weiß: Am Ende klang es, als prassele der Sand, den eigentlich die beiden Perkussionisten rieseln lassen, vom Himmel auf das Dach der Bibliothek.
Eine geister- und traumhafte musikalische Parallelwelt entstand so, die mit der typischen Bibliotheksatmosphäre geistiger Arbeit und meditativer Ruhe zu verschmelzen schien. Die Welt der Bücher ist – obgleich mitten in der Stadt – eben auch ein sehr eigenes, für viele Menschen fremdes und abgeschiedenes Universum. An diesem Abend wünschte man sich, dass die Musik hier nie aufhört zu klingen. (Stuttgarter Zeitung)